Glück, Tüchtigkeit und Charisma

Fast alle europäischen Herrscherhäuser hatten Konflikte mit der Kirche auszutragen. Die Salbung eines Monarchen und seine Ausstattung mit den Insignien geschah durch einen hohen Geistlichen; umgekehrt war die lnvestitur von Bischöfen und anderen her- ausgehobenen Klerikern, die immer auch über einen ausgedehnten weltlichen Besitz geboten, ein Vorgang, an dem sich der oberste weltliche Herrscher interessiert zeigte und an dem er mitbeteiligt sein wollte. Dies führte zu dem berühmten Konflikt zwischen Erzbischof Thomas Becket und König Heinrich ll. von England, der mit der Ermordung des Kirchenfürsten endete. Der Investiturstreit belastete das Verhältnis zwischen Rom und deutschen Kaisern, was mit dem Sieg des Papsttums ausging.

Damit war zugleich die Zeit der deutschen Ansprüche auf die politische Vormachtstellung in Europa dahin. Den beansprucht nunmehr Frankreich, sein sichtbarster Ausdruck waren die französischen Päpste in Avignon mitsamt dem davon ausgelösten Schisma.

Die Verschränkung zwischen weltlicher und klerikaler Macht hatte noch weitere Aspekte. Ihre Bildung und, vor allem, ihre Schreibfähigkeit prädestinierte die Geistlichen für die mit jeder Regierungstätigkeit verbundene Bürokratie. Viele Könige hielten sich Kleriker als Kanzler oder politische Berater, die königliche Kanzlei war identisch mit der Hofkapelle, geistlicher und politischer Zuspruch erfolgten durch die selben Personen. Urkunden wurden durch Kleriker aufgesetzt und ausgefertigt. Das Deutschland der Reisekönige hatte keine besondere Registratur, auf die sich umgehend zugreifen ließ; üblicher Ort, Urkunden und Dokumente sicher aufzubewahren, waren die Bibliotheken von Klöstern.

Königsherrschaft war teuer. Königliche Macht, das verlangte die Mitwelt, bedurfte der aufwendigen Selbstdarstellung, und die hatte ihren Preis. Er wurde bestritten mit den Abgaben und Steuern, die der König einnahm, und aus den königlichen Dominien, deren Einkünfte unmittelbar an den Hof gingen.

Regieren beinhaltet anordnen, entscheiden, ausgleichen, durchsetzen, kontrollieren. Alle Entscheidungen lagen zunächst beim Herrscher. Er war zugleich oberster Richter, oberster Gesetzgeber und oberster Exekutor. Eine Gewaltenteilung im modernen Verstand gab es nicht; das Mittelalter kannte dergleichen allenfalls in horizontaler Hinsicht: Die Macht des Herrschers versickerte irgendwo auf dem Weg von der Spitze zur Basis, wo dann die Partikularfürsten dazwischen traten und ihre eigenen Interessen durchsetzten. Der Herrscher entschied allein, aber er entschied nach vorheriger Beratung. Wen er als Berater berief, war seine Sache; es gab noch keine förmliche Verfassung, nur Konventionen und Rituale, Staat und Verfassung waren der jeweilige Herrscher selbst. Wichtig für die Berater waren Kenntnis- stand, Intelligenz und Interessen. Von der Güte der Beratung hing die Weisheit der Entscheidungen ab. Die Beratung konnte öffentlich oder vertraulich sein. Synoden, Reichstage und Königsgerichte machten Beschlussfassung und Urteilsfindung für die Umwelt miterlebbar. Eine häufige Übung war es, politische Entscheidungen bei Festgelagen zu erörtern, die höfische Tafel erhielt hier ihren zusätzlichen Sinn. Der kommunikative Charakter der gemeinsamen Mahlzeit mit ihren Assoziationen an die Abendmahlspraxis sollte eine friedliche Atmosphäre schaffen, was freilich nicht durchweg funktionierte: Man konnte bei Beratungen in Streit geraten, der bis zu Tätlichkeiten führte.

Der Herrscher war in der Auswahl seiner Berater relativ frei. Er umgab sich mit Personen seines Vertrauens, die, dem mittelalterlichen Familiengedanken entsprechend, gerne der eigenen Verwandtschaft entstammten. Eine Garantie für Verlässlichkeit und Treue bedeutete das nicht, so wenig wie Huldigung und Treuegelöbnis sie brachten. Wichtig war deswegen die Bindung durch Zahlungen, Schenkungen, durch Rangerhöhungen und Besitztitel; Wohltaten banden sicherer als Blut. Materielle Vorteilsnahmen waren gleichermaßen der Weg, herrscherliche Entscheidungen zu beeinflussen oder überhaupt zum Ohr des Mächtigen vorzudringen. Man gab, damit gegeben wurde. Erst die eigene Leistung garantierte die Gegenleistung. Für die Interessenvertretung höheren Orts brauchte es einen Fürsprech, der sich für seinen Einsatz angemessen bezahlen ließ, was völlig normal erschien. Die Bindung der Mitarbeiter an den Herrscher und der Hocharistokratie an die Herrschaftsspitze erfolgte durch Huldigung und Eid. Beides konnte missachtet oder vergessen werden. Gegen beides konnte man verstoßen, was auch immer wieder geschah, wenn die Situationen es hergaben und Ehrgeiz nebst Habsucht eines jeweiligen Untergebenen danach drängten.

Der Herrscher konnte versuchen, Gegenbündnisse zu schaffen. Er konnte mit entsprechenden Verwaltungsakten operieren, etwa der Absetzung. Gewöhnlich half bloß noch die bewaffnete Auseinandersetzung und, nach deren Ende, nach neuerlicher Unterwerfung und neuen Eiden, das Stellen hochrangiger Geiseln. Sie waren der Gewalt des Herrschers ausgeliefert und wurden hingerichtet bei einem nochmaligen Treuebruch dessen, für den sie standen.

Dem Herrscher halfen außerdem Glück, Tüchtigkeit und Charisma. Er zehrte von dem Nimbus, der seinem Amte anhing und der sich herstellte aus dem feierlichen Gepräge, mit dem er inthronisiert wurde. Das religiös eingefärbte Ritual suggerierte einen göttlichen Auftrag. Wer sich dagegen erhob, verstieß gegen Gott. Allerdings, Gott war weit fort, und es gab zwischen Schenkung, Beichte und Bußübung vielerlei Gelegenheit, seine Verzeihung zu erwirken.

Die Vorwande für eine Rebellion gegen den gekrönten König Waren zahlreich. Man konnte ihm Nachlässigkeit vorwerfen oder Machtmissbrauch. Beliebt waren Einwände gegen die Art, wie er in sein Amt gelangt war, da sich dabei angeblich Verstöße gegen die durch die Überlieferung festgelegten Riten der Investitur ereignet hatten. Man rebellierte, weil man es wollte und man sich _ einen direkten materiellen Vorteil davon verhieß.

Es gab Situationen, da die Frau eines Herrschers aus dessen Schatten heraustreten und die demütige Rolle, die das Mittelalter den Frauen vorschrieb, ablegen konnte. Der deutschen Geschichte wuchsen auf diese Art ein paar bemerkenswerte Witwen zu, zum Beispiel Theophanu, Frau Kaiser Ottos II., eine gebildete, polyglotte und welterfahrene Byzantinerin. Auch Margarete I. von Dänemark, Norwegen und Schweden gehört in diese Reihe, ebenso wie Eleonore von Aquitanien, Erbtochter Wilhelms X., des Troubadours; sie war verheiratet erst mit König Ludwig VII. von Frankreich, danach mit König Heinrich II. von England. Ihren Besitz, das Herzogtum Aquitanien, nahm sie in jede dieser Ehen mit. Um dem von der Bibel vorgeschriebenen Auftrag zu Friedfertigkeit und Feindesliebe wenigstens partiell nachzukommen, entschloss man sich im Hochmittelalter zur Einrichtung des Gottesfriedens. Er kam als Idee und beschworene Praxis in cluniazensischen Klosterreform. Unter Androhung von Kirchenstrafen wie der Exkommunikation sollten bestimmte Personengruppen wie Kleriker, Kaufleute, Bauern, Frauen sowie bestimmte Objekte wie Kirchen, Klöster und Straßen von allen Fehdehandlungen ausgenommen bleiben. Die Sache hatte zunächst einen unmittelbar wirtschaftlichen Effekt. Sie kam dem Fernhandel zugute. Sparer wurde sie gleichermaßen ergänzt und konkretisiert durch die so genannte Treuga Dei; das erste Wort ist eine vulgärlateinisehe Entlehnung aus dem Keltischen treve, was Treue bedeutet. Die Treuga Dei legte den Gottesfrieden auf bestimmte Fristen fest: von Mittwochıabend bis Montagfrüh, außerdem auf Advent und Weih- nachten Lind die österliche Fastenzeit. Die Idee des Gottesfriedens war so durchdringend, dass sie später in das geschriebene Landrecht Eingang fand; damit arbeitete sie der heutigen Vorstellung und Praxis vom Gewaltmonupol des Staates direkt zu. Freilich: Auch unter den Bedingungen der Treuga Dei wurden Fehde und Kriegshandlung allenfalls eingeschränkt und nicht beseitigt, die Schlacht bei Bouvines beweist es.

Im Jahre 1447 druckte Johannes Gutenberg in Mainz das erste Schriftstück, dann, sechs, sieben Jahre später, druckte er seine Bibel mit den 42-zeiligen Seiten. Das neue Medium zur Verbreitung von Kenntnissen und Gedanken verbreitete sich in ungewöhnlichem Tempo. Druckerpressen standen in Rom, Mai-land, Florenz und Neapel schon innerhalb der folgenden zehn Jahre und in Paris, Lyon, Brügge und Valencia bald darauf. Der Druck der ersten Musiknoten erfolgte 1473.

Der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich war 1492 an seinen Abschluss gelangt. Auch das Blutvergießen zwischen den englischen Adelshäusern York und Lancaster fand sein Ende, nunmehr saßen in London die Tudors auf dem Thron. Das Jahr 1492 ist zudem bedeutsam durch den Beginn der Entdeckungsreise des Christoph Kolumbus, im Oktober des gleichen Jahres legten seine Karavellen an der Küste der Bahamas an. »Die Energien Europas<<, sagt die amerikanische Autorin Barbara Tuchman, »die einst ihr Ventil in den Kreuzzügen gefunden hatten, richteten sich nun auf die Entdeckung und Besiedlung der Neuen Welt.« Die von dort zurückströmenden Reichtümer veränderten die wirtschaftlichen Strukturen in Europa. Die gleichfalls von dort herein strömenden neuen Ekenntnisse veränderten das Denken. Das Mittelalter lief aus. Es endete, wie es begonnen hatte: mit Unruhen, mit Gewalt, mit Ängsten und mit Hoffnung. Adelstitel Ende.

(Quelle: Dieter Hägermann (Hrsg.): Das Mittelalter - Die Welt der Bauern, Bürger, Ritter und Mönche, RM-Buch-und-Medien-Vertrieb, 2001)