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Das Mittelalter bewirkte, je weiter es vorankam, eine immer stärkere soziale Umschichtung. Sie war die Folge der wirtschaftlichen Fortschritte und der durch sie bedingten Arbeitsteiligkeit. Sämtliche gesellschaftlichen Gruppen wurden davon ergriffen, bis hin zur weltlichen Herrschaft, die, um ihre ständig komplizierter werdenden Pflichten wahrnehmen zu können, eines entsprechenden Verwaltungsapparates bedurfte und sich diesen schuf. Es entstand die zumal für das deutsche Hochmittelalter ebenso charakteristische wie einflussreiche Ministerialität.
Ursprünglich waren ihre Angehörigen nichts als Dienstleute, Abhängige; überwiegend waren sie auch unfrei. Durch Tüchtigkeit und Umsicht machten sie sich unentbehrlich, wurden Aufseher, Vögte und Meier, besetzten die Richterstühle und übernahmen wichtige Funktionen im Militärbetrieb. Sie besaßen die Energien der Emporkömmlinge und das eiserne Bewusstsein ihrer eigenen Unentbehrlichkeit. Sie verrichten, was in sehr viel späteren Phasen der Staatsentwicklung die Verwaltungsbeamten zu leisten hatten. Ihre gesellschaftlichen Anfänge reichen zurück bis in das fränkische Zeit- alter, doch ihre entscheidende Rolle begann erst im 11. Jh., im letzten Abschnitt der Salierherrschaft.
Parallelen lassen sich sowohl in England wie in Frankreich nach- weisen, Die Sheriffs der Normannenherrschaft versahen ministeriale Tätigkeiten, wie es servi ministeriales links des Rheines taten. Alle mal stellte dergleichen ein Wichtiges Vehikel dar für den möglichen Aufstieg innerhalb der ständischen Hierarchie. Nun fanden sich vereinzelt auch gebotene Adlige, die sich als Ministeriale einsetzen ließen; die englischen Sheriffs entstammten fast durchweg dieser Schicht. In Deutschland wurde die Mehrheit immer von Unfreien gestellt, die darauf setzen konnten, demnächst aus ihrer Leibeigenschaft entlassen und mit Landbesitz belehnt zu werden. Die ehedem Unfreien gelangten dabei in – zumeist niedere - Adelsränge.
Bei alledem darf man sich das Dasein eines Ministerialen nicht etwa luxuriös vorstellen. Er lebte nicht viel anders als ein Bauer, als ein kleiner Grundherr oder ein einfacher Städter: nach heutigem Maßstäben am Rande der Bedürftigkeit. Sein wichtigstes Besitztum war sein Pferd, auf dem er im Kriegsfall in die Schlacht reiten konnte, Damit war er ein miles, ein Ritter, was im Französischen chevalier hieß und im Englischen knight. Der Begriff entziehe sich der exakten Definition, sagt der britische Mediävist Maurice Keen, er bezeichne »einen Mann von aristokratischem Stand und möglicherweise adligen Vorfahren, der in der Lage ist, sich mit einem Streitross und den Waffen eines Schwerberittenen auszurüsten, wenn man ihn dazu aufforderte, und der durch ein bestimmtes Ritual zu dem gemacht Wurde, was er ist: zu einem Ritter - ein Mann, der den ›Ritterschlag« erhalten hatte«. Es geht hier um keine genau fixierbare Sozialschicht, es geht um ein gesellschaftliches Ideal, dessen Realisierung man anstreben kann. Das setzt eine Lehrzeit voraus, unter anderem, vergleichbar jener im städtischen Handwerk. Der angehende Ritter dient zunächst als Knappe und sieht sich am Ende durch das entsprechende Zeremoniell eines höheren Adligen zum Ritter erhoben.
Ritterschaft und Ritterlichkeit werden der Inhalt von Dichtung und Musik. Sie prägen das gesamte gesellschaftliche Leben der Oberschicht, sie schaffen einen Kanon von Verhaltensnormen und Idealen. Wir haben uns angewöhnt, die so geprägte Zivilisation höfisch zu nennen.
Auch dies ist ein ungefähres Wort, nicht viel anders als der Begriff des Ritterlichen. Das Wort leitet sich her von Hof, cour, womit der Adelshof gemeint ist; die anderen deutschen Ableitungen lauten höflich, hübsch und hofieren, womit sich bereits einiges über Art und Inhalt der höfischen Kultur mitteilt. Sie ist ein Spiegel der hochmittelalterlichen Adelsgesellschaft in Ritual, Selbstfeier und Kunst. Sie ist eine Hochkultur, die ebenso der Selbstdarstellung dient wie der Selbsterziehung und dem Genuss.
Die Muster kommen aus Frankreich, das seinerseits auf das gesamte westliche Europa ausstrahlt, auf Spanien wie auf England, Italien und Deutschland. Betroffen sind die Mode und die schöne Literatur, die Baukunst und das Zeremoniell. Die Kommunikation erfolgt auf mannigfachem Weg: In Herrscherhäusern kommt es zu Hochzeiten zwischen Angehörigen aus unterschiedlichen Ländern, Kreuzfahrer verschiedenen Herkommens finden in gemeinsamen Aufgaben zusammen, Kaufleute überqueren die Sprach- und Kultur- grenzen, fahrende Scholaren streben der Pariser Sorbonne entgegen und kehren von dorther zurück.
Die Möglichkeiten für den kulturellen Austausch sind also zahl- reich; eine andere Sache ist es, dass sie akzeptiert werden. Europa zeigt sich bereit, die kulturelle Vormacht Frankreichs anzuerkennen und sich ihr anzugleichen. Der europäische Adel kleidet, benimmt und verhält sich französisch, ungeachtet der einen und anderen ethnischen Eigenart, die sich freilich behauptet und mit den Importen zu einer neuen Einheit zusammenfindet.
Man verhält sich jedenfalls courtois, das ist höfisch. Man bohrt nicht mehr mit dem Messer in den Zähnen. Man wischte sich das Bratenfett vom Munde, ehe man aus dem gemeinsamen Weinbecher trinkt, denn es steht auf den Tafeln bloß ein Trinkgefäß für zwei Personen. Man schneuzt nicht in das Tischtuch. Man schlägt sich nicht sinnlos den Magen voll. Zurückhaltung und Angemessenheit sind wichtige Elemente des idealen Verhaltens. Andere Schlüsselbegriffe lauten Ehre, Zucht, Großzügigkeit, Nachsicht, Anstrengung, Dienst und vornehme Gesinnung.
Die gemeinsamen Mahlzeiten bilden ein zentrales Element des höfischen Lebens: Sie sind identitätsstiftend. Wichtig ist zunächst die Tischordnung. Der Hausherr, gewöhnlich auch der höchste Aristokrat im Raum, sitzt an der Spitze des Tisches, die Gäste werden entsprechend ihrer Rangordnung neben oder nach ihm platziert; der beste Platz ist immer in der Nähe des Königs. Da hierbei protokollarische Probleme lauern können, entschließt man sich lieber zu einer table ronde, einem runden Tisch, wo dergleichen nicht vorkommen kann. Entsprechend dem Rang des Hausherrn und der Zahl seiner Gäste ist die Größe der Dienerschar. Das Eintreten erfolgt in der Form eines feierlichen Aufzugs. Bei großen Mahlzeiten wird musiziert.
Gegessen wird mit den Fingern. Es gibt zwar Löffel, Messer und Gabel, aber Löffel und Messer werden lediglich zum Zerkleinern benutzt und Gabeln zum Vorlegen. Als Teller diente eine Scheibe Brot, der tranchoír; nach getaner Mahlzeit wird er verspeist oder den Hunden vorgeworfen. Aus den Schüsseln bedient sich jeder nach seiner Neigung und seinem Appetit. Für das Säubern der Hände reichen nach der Mahlzeit Diener ein Handwaschbecken. Die ständige Anwesenheit von Dienstpersonal schärft zugleich das Bewusstsein für die hierarchische Ordnung.
Die übrigen kollektiven Handlungen innerhalb der höfischen Kultur sind auf nichts anderes ausgerichtet. Hierzu zählen die Feste. Die Schilderungen großer Feierlichkeiten gibt es aus allen westeuropäischen Ländern, von den Höfen der französischen Kapetinger wie der englischen Plantagenets wie vom Hof der römisch-deutschen Kaiser. Umfang und Pracht sind immer enorm. Bei den beiden Hoffesten des Staufers Friedrich Barbarossa sollen die Teilnehmerzahlen jeweils mehrere tausend betragen haben, man benutzt eigens zum Anlass errichtete Gebäude und wohnt in prunkvollen Zelten.
Der zeremonielle Ablauf ist, hier wie sonst, stets der gleiche. Es gibt die Einladung, die Vorbereitung, die Ankunft und den Empfang der Gäste. Es gibt Bewirtung, Unterhaltung und Geselligkeit und schließlich das Überreichen von Geschenken zum Abschied. Die Ankunft vollzieht sich in der Form einer feierlichen Prozession. Auch die Begrüßung ist ritualisiert: Niederknien, Verbeugung, Umarmen und Kuss. Zur Geselligkeit gehören die Vorträge von Liedern und artistische Darbietungen, einschließlich des Vorführens dressierter Tiere, auch solcher aus exotischen Ländern. Im Spätmittelalter ist dafür das Vorbild der exquisite Hofbetrieb der Herzöge von Burgund.
Das 12. und 13. Jh. sind die hohen Zeiten des Rittertums. Danach beginnt der Niedergang. es wird zu einer leeren Hülle, zu bloßer Zweckbehauptung; die großen Krisen des Spätmittelalters lassen auch den Adel verarmen. der sich daraufhin entschließen muss, seine materielle Existenz durch Wegelagerei zu fristen, als verachteter Raub- und Strauchritter. Die metallene Ausrüstung wird Wert- und sinnlos durch das Aufkommen der Feuerwaffen. Der Habsburgerkaiser Maximilian I. (1459~l5l9) bezeichnet sich selbst pathetisch als letzten Ritter. Der Spanier Miguel de Cervantes schafft dann den melancholisch-komischen Abgesang auf diesen Typus, indem er seinen Don Quijote vorführt als exemplarischen Ritter von der traurigen Gestalt.