Mit Huldigen und Heimlichsein

Zur höfischen Kultur des Mittelalters gehörte neben Zeremoniell und Festlichkeit, neben sportiver Übung und geselliger Mahlzeit ein eigener Kunstbetrieb. Erstellte sich in den Zusammenhang allgemeiner ästhetischer Zustände, die nun nicht allein der Oberschicht dienlich sind, wiewohl vor allem ihr; Kunst funktioniert als Herrschaftsinstrument, unter anderem, und dient seit alters her erst einmal dem Fixieren und Rechtfertigen der gegebenen Ordnung. Wir haben einigen Grund, hier von dem zu sprechen, was eine aktuelle Diskussion an der tatsächlichen Wirklichkeit vorüber für die Gegenwart behauptet: einer für alles Europa maßgeblichen Kultur. Die großen Stile und Tendenzen, die Stoffe und die Moden transzendierten die ohnehin noch nicht sehr festgelegten Grenzen von Staaten und Ethnien. Die Gemeinsamkeiten reichten von der Iberischen Halbinsel bis an die Weichsel. Die Gemeinsamkeiten haben ihr unerschütterliches Zentrum in der Religion. Um das Christentum Weströmisch-katholischer Prägung kreisen sämtliche ästhetische Bemühungen: jene, die ihr direkt zugeordnet sind, wie jene, die sich von ihr absetzen, Auch bei ihnen bleibt der Ausgangspunkt allemal kenntlich, und noch die wildesten, mit Elementen heidnischer Zaubermärchen angereicherten Ritteraventiuren vergessen nicht den Hinweis, ihre Helden seien in christlichem Auftrag unterwegs.

Hier äußert sich eine Spannung, unter die sich die gesamte ästhetische Entwicklung des europäischen Mittelalters stellt. Es gibt die Bedienung christlich-religiöser Topoi auf der einen Seite und die Drift zum Säkularen hin auf der anderen. Hinzu tritt, soweit es die schöne Literatur anlangt, die Verwendung des Lateinischen auf der einen Seite, europäische lingua franca auch der Belletristik, und die Emanzipation der jeweiligen Volkssprachen auf der anderen. Auch hier bleibt, aller idiomatischen Eigenart zum Trotz, der Grenzen überschreitende Kontext immer gewahrt.

Dabei schafft die Nationalsprachlichkeit noch die stärksten Differenzierungen. Ansonsten können sich die ästhetischen Produkte ähneln bis zur Austauschbarkeit. Gemeinsam ist allen Ländern etwa die Verwendung von Musik.

In den Schilderungen höfischer Feste wird immer von Musikanten geredet. Es handelt sich um Spielleute, fahrendes Volk, das seine Kunstfertigkeiten in der Form bezahlter Dienstleistungen anbietet. Sie liefern die weltliche Variante einer Kunst, deren anderer, ehrwürdigerer Teil der Kirche zugehört.

Wir sind über das musikalische Geschehen des Hochmittelalters ziemlich genau unterrichtet, Wir wissen, dass geistlicher Gesang zum festen Bestandteil des liturgischen Geschehens gehörte; er ist monophon, seine Texte sind lateinisch, seine Notate erfolgen in Neumen genannten Wiedergaben, Vorläufern heutiger Notenschrift. Der einfache Chorgesang oder cantus planus ist seit de 9. Jh. bezeugt. Eine wesentliche Neuerung geschieht im 11. Jh. durch Elemente wie Sequenz. Tropus und Conductus; komplette Gesangbücher entstehen. Musikalische Spiele geistlichen Inhaltes werden aufgeführt, man darf sie als Vorform der Oper betrachten. Die Anfänge der rein weltlichen Musik sind schlechter dokumentiert; gesichertes Notenmaterial existiert da erst aus dem Zeitalter der Troubadoure.

Die Instrumente, auf denen man musiziert, sind Geige, Harfe, Drehleier, Flöte, Trompete, Zither, Trumscheit, Trommel. Auch das Zusammenspiel mehrerer Instrumentalisten ist bezeugt, was sich ohne Koordination und Mehrstimmigkeit nur schwer leisten lässt. Die Musik bei höfischen Festen diente der Begleitung bei den Mahlzeiten, dann noch spielt sie zum Tanz auf.

Über die tänzerischen Figuren wissen wir nicht viel. Wir dürfen uns Choreographien vorstellen, wie sie heute bei Volkstanzen gebräuchlich sind. Das Christentum ist von den großen monotheistischen Religionen die einzige, die den Tanz gänzlich aus ihrem religiösen Programm verbannt und ihn damit exklusiv der profanen Welt über- lässt, wo sein einziger Zweck und Inhalt die Partnerwahl ist. Von Brautschau und Brautwerbung bis zur simulierten Kohabitation imitieren und präparieren die Volks- und Gesellschaftstänze Europas mehr oder minder stilisiert die Formen der menschlichen Liebesbegegnung.

Im Hochmittelalter beginnt auch die allmähliche Emanzipation der bildenden Kunst von der Religion. Nach wie vor bleibt ihr das Christentum als alles beherrschendes Element, die Kirche ist weiterhin wichtigster Auftraggeber von Malern, Stein- metzen und Bildschnitzern, das überwiegend analphabetische Publikum soll die theologische Botschaft nicht nur über das gesprochene Wort der Predigt und das gesungene Wort der Liturgie, sondern auch über die Fresken, Altartafeln und Heiligenstatuen der Gotteshäuser erfahren. Auf diese Weise dominiert die Kirche die Bildkunst bis zum Ende des Mittelalters.

Die Bibel ist geschichtenträchtig und figurenreich genug, dass sich neben der unzählige Male wiederholten und variierten Leidensgeschichte Jesu Christi noch andere Motive finden lassen. Die Darstellung zeigt anfangs, im frühen Hochmittelalter, eine sonderbar ikonenhafte Erstarrung, die an Byzantinisches erinnert und von dort aus auch ihre Anregung erfuhr. Später befreit sie sich davon. Sie findet zunächst zum Realismus der Hochromanik, ehe sie die Manierismen der gotischen Architektur ins Figürliche übersetzt.

In den biblischen Szenerien wird kein Historismus probiert. Geschichtsbewusstsein setzt ein differenziertes Zeitempfinden vor- aus, an dem es dem Publikum mangelt, außerdem liegt der Theologie nicht daran, die Heilsgeschichte in befremdliche Vergangenheiten zu entrücken, sie soll vielmehr nahe gebracht werden, was die temporäre und räumliche Nähe einbegreift. Die frommen Figuren schlüpfen ins Gewand ihrer Entstehungszeit. Sie tragen die Kostüme jener, die sie betrachten, die Interieurs entstammen ebenso wie die gezeigten Außenansichten und Landschaften der unmittelbaren Nachbarschaft des Schöpfers.

Auf diese Weise sickert unmerklich Säkulares in die Bildwelt, und es wird absehbar, dass es sich von der Heilsgeschichte gänzlich löst. Durchdringend wird dies erst ausgangs des Mittelalters geschehen. Landschaft und Porträt, Stillleben und Interieur werden, zusammen mit den Motiven antiker Mythologie, die Bildgegenstände von Renaissance und Barock, doch schon vorher gesellen sich unter die Bewunderer, die das neugeborene Jesuskind und seine Mutter Maria umringen, die porträtähnlichen Gestalten der Stifter und der ausführenden Künstler. Es gibt die Stifterfiguren in Kathedralen und die Abbilder von hochmögenden Toten auf Sarkophagen.    

Daneben entsteht eine völlig vom Sakralen losgelöste Bildkunst. Sie folgt darin dem Kunstgewerbe, das sich längst nicht mehr bloß auf das Verfertigen von Tabernakeln, Reliquiaren und sonstigem Kultgerat beschränkt; nicht allein die Bischöfe tragen kostbare Ringe, auch die weltlichen Fürsten, und von den frommen Buchmalereien in liturgischen und theologischen Texten führt ein unmittelbarer Weg zur Illustration weltlicher Literatur. Die Handschriften des Sachsenspiegels illuminieren säkulares Geschehen. Der Teppich von Bayeux erzählt bildhaft von der normannischen Invasion der englischen Insel, In Thüringen und Südtirol entstehen in Feudalsitzen Wandmalereien mit Figuren zeitgenössischer Ritterepen.

Die Belletristik des Mittelalters muss sich zunächst noch jener Schriftsprache bedienen, die als einzige existiert, des Lateins, aber sie wendet sich bereits frühzeitig auch säkularen Stoffen zu. Die Anregungen entstammen zunächst der griechisch-römischen Antike, die Benediktinerin Hrotsvith von Gandersheim, Deutschlands erste Poetin, verfasst im 10. Jh. neben geistlicher Dichtung höchst weltliche Theatertexte, angeregt durch die Komödien des Terenz. Ein anderer geistlicher Autor, Ekkard aus dem Kloster St. Gallen, erzählt in den lateinischen Versen des Walthariusliedes einen Stoff aus dem personalen Umkreis des Nibelungenstoffes.

Es geht darin um Krieg, Kampf und Heldenleben, heroische Stoffe sind der erste und wichtigste Inhalt von nichttheologischer Belletristik. Sie erzählen von bezeugbaren Figuren wie Karl dem Großen samt Neffen Roland und ebenso von erfundenen Märchengestalten wie dem Ruodlieb in einer gleichnamigen Dichtung vom Tegernsee. Die Grenzen zur reinen Geschichtsschreibung gestalten sich fließend. Auch die Autoren der verschiedenen Chroniken sind alles andere als skrupulöse Positivisten und lassen ihrer Einbildungskraft gegebenenfalls freien Lauf.

Die lateinischen Dichtungen werden dann ins Nationalsprachliche übersetzt. Roland ist Held auch einer altfranzösischen Chanson de geste, womit ein feststehender literarischer Topos kreiert wird, den andere Literatursprachen wiederholen. Die Inhalte solcher Heldenepen können antik sein, wie der Aenaeas des Vergil, oder historisch, wie der große Makedonier Alexander, und es gibt, wiederum in Anlehnung an die Antike, die populäre Tiergeschichte von Reineke Fuchs.

Besonders beliebt wird der Sagenkreis um König Artus. Die Ursprünge sind keltisch, geographischer Ursprung ist die britische Halbinsel Cornwall. Die Zeit, in der König Artus gelebt haben könnte, falls er jemals gelebt hat, war das 6. Jh.; die erste Darstellung, die von ihm existiert, stammt aus der Feder eines walisischen Mönches im 9. Jh.

Danach ist der Stoff immer wieder rezipiert worden, am nachdrücklichsten durch Geoffrey of Monmouth zu Anfang des 12. Jh.

Der britische Mönch schrieb noch Latein. Robert Wace auf der Kanalinsel Jersey übertrug es ins Französische. Hier machte der Stoff rasch Karriere, indem er von anderen Dichtern aufgenommen Wurde, vor allein von Chretien de Troyes, der ihn dann an die deutschen Dichter Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg weiterreichte. Sollte man nach einem Gleichnis suchen für europäische Kultur im Hochmittelalter, bietet sich neben den Dichtungen um Reineke Fuchs der Artus-Sagen-stoff an.

Oder der Nibelungenstoff. Die Geschichte von Siegfried, dem Drachentöter, von Nibelungenschatz und Gemetzel an König Etzels Hof findet sowohl im Deutschland der Staufer als auch im Island der Lieder-Edda literarische Beachtung, Figuren aus ihrem Sagenkreis treten bereits in einer der ältesten Dichtungen deutscher Sprache auf, dem fragmentarisch überlieferten Hildebrandslied, wie auch sehr viel spätere Autoren, Hans Sachs, Friedrich Hebbel und Richard Wagner, sich dem Stoff zuwenden.

Das deutsche Hildebrandslied ähnelt im Stil der ältesten Dichtung der Angelsachsen, die von Beowulf und Grendel erzählt. Das mit dem Nibelungenlied gleichzeitige Nationalepos der Spanier, »Cantar de mio Cid«, ist die kastilische Adaption einer älteren lateinischen Dichtung über Spaniens Nationalhelden.

Allen diesen Texten ist gemeinsam, dass sie für den mündlichen Vortrag vor höfischer Gesellschaft entstanden. Dies macht auch die Verwendung der Nationalsprache plausibel. Die Zuhörer Waren des Lesens ebenso unkundig wie des Lateins. Die Literaturkarriere der verschiedenen europäischen Nationalsprachen, die einen deutlichen Bildungsschub bringen, verdanken sich paradoxerweise der Unbildung des interessierten Publikums.

Mündlich, zu musikalischer Begleitung, verwirklichte sich auch jene andere Dichtkunst von europäischer Dimension, die das Hoch» mittelalter hervorbrachte, der Minnesang, Einer seiner frühesten Autoren war Wilhelm IX. von Aquitanien, der Schürzenjäger, Pilger und Jerusalemfahrer. Hier ein Ausschnitt aus einer seiner Dichtungen:   

Si`m vol ini dons s‘mor donar,

Pres suy del penr'e del grazir,

E del celar e del blandir,

E de sus plazers dir e far,

E de son prctz tcnir en car,

E de son laus enavantír.

 

Ren per autruy non l‘aus mandar,

Tal paor ay qu‘ades s‘azir;

Ni ieu mezeys tan tem falhir,

No l‘aus ma‘mor fort assemblar:

Mas elha‘m deu mo Mielhs triar,

Pus sap qu‘ab lieys ai a guerir.

 

In der deutschen Nachdichtung von Helmut Bartuscheck:

 

Knüpft' meine Herrin fest das Band

Der Liebe: dankte ich‘s ihr fein

Mit Huldigen und mit Heimlich sein

Und diente ihr mit Mund und Hand

Und ehrte ihren Ruf und Stand

Und säng ihr Lob landaus, landein!

 

Nie hab ich Boten ihr gesandt;

Mir bangt, ihr brächt‘s Verdruss und Pein;

Nie habe ich, aus Scheu allein,

Ihr meine Liebe laut bekannt:

Mein Herz sei ihr das Unterpfand,

Dass ich ihr nah nur kann gedeihn!

 

Der Minnesang ist eine hoch stilisierte Kunst. Er bedient sich mehrerer Stereotypen, die er ständig variiert. Das bei weitem häufigste handelt vom (zumeist vergeblichen) Betteln eines Ritters um die Liebesgunst einer Dame. (Es gibt auch Verse aus weiblicher Sicht; in Portugal wird dieser Typus vorherrschend.) In aller Regel ist die Dame gesellschaftlich höher gestellt als der Ritter, und verheiratet ist sie außerdem, die Standard» gebärden sind Vergeblichkeit und Verzicht. Dies alles hält den Ritter nicht davon ab, stets aufs Neue um ein Zeichen der Gunst zu werben, das er zuweilen sogar erhält, in der Form eines Blicks und einer huldvollen Geste. Dies allein kann ihm schon Augenblicke der Glückseligkeit bescheren.   

Die Anstrengungen, die ihn das kostet, sind ein willig vollzogener Dienst, und das Ergebnis für ihn selbst ist Zucht, Erziehung. Wir haben es mit einer durchaus pädagogischen Literatur zutun, deren Ziel Herzensbildung, männliche Bescheidenheit und angemessene Verhaltensformen sind. Zum Bild des vollkommenen Ritters gehört, dass er seiner Dame selbstlos dient und zu ihrem Ruhm selbst körperliche Gefahren auf sich nimmt.

Man hat viel gerätselt, wieso es plötzlich zu einem so weit verbreiteten und populären Kanon gekommen ist. Dass seine Inhalte mit der Wirklichkeit hochmittelalterlicher Höfe nur selten etwas zu tun haben, darf als gewiss gelten, doch ebenso sicher ist, dass die verbreitete Akzeptanz dieser Lyrik einem allseits vorhandenen Befürfnis entspricht, da sie ein Verhalten formuliert, das jedenfalls als Musterhaft gilt.

Hierzu muss man wissen, dass die Anregungen wiederum aus Frankreich kamen. Anders als die Chanson de geste, deren Ursprungslandschaft der französische Norden war, entstand die Minnelyrik im Süden des Landes. Er hatte eine weitgehende politisch-kulturelle und auch sprachliche Autonomie, und eben dort traten erstmals die trobadors auf, die dann zum Vorbild der nordfranzösischen Trouvers und der anderen europäischen und vor allem deutschen Minnesänger wurden.

Man hat Anregungen sowohl in der christlichen Marienverehrung  gesucht als auch der islamischen Hochkultur, zu der sowohl durch die Kreuzzüge als auch über die Maurenherrschaft auf der Iberischen Halbinsel ein Zugang bestand. Wahrscheinlich wirkte alles zusammen. Ein bisschen volkstümliche Liedkunst war wohl immer auch dabei.

Zum Vortrag ist noch zu sagen, dass er in größerer Runde erfolgte. Der Dichter sang zu-meist selber. Aus Frankreich ist bezeugt, dass manche Autoren sich gelegentlich bezahlte Sänger hielten. Den Deutschen wächst in diesem Genre einer ihrer bedeutendsten Dichter überhaupt zu, Walther von der Vogelweide.

Von den literarischen Spitzenleistungen der europäischen Kultur um 1200 zehren dann die folgenden Jahrhunderte. Die Stoffe der Heldenepen werden, inhaltlich wie sprachlich neu gefasst, zum Inhalt von Volksbüchern, Die hoch stilisierte Minnelyrik formalisiert ihre Mittel und geht über in das strukturell völlig andere Milieu der Städte, wo sie sich als Meistergesang fortsetzt, oder sie sinkt ab ins Bäuerliche und inspiriert die dort gesungenen Volkslieder, Mit dem Verfall des Rittertums gehen der Hochkultur Grundlage und Maßstäbe verloren. Kunstpublikum sind jetzt die niederen Stände, die ihre eigenen Bedürfnisse vortragen; ein schönes Beispiel ist die spätmittelhochdeutsche Dichtung von Meier Helmbrecht, die den gesellschaftlichen Anspruch und die Tugenden des bäuerlichen Milieus behauptet.

Außer dem gesunkenen Kulturgut der höfischen Kunst neigt man beispielsweise dem Theater zu. Bei den österlichen Mysterien! und Passionsspielen, die zunächst nur eine weitere und sehr populäre Transmission der biblischen Botschaften darstellen, beanspruchen die wegen ihres derb-vulgären Charakters ungemein beliebten Teufelsszenen einen immer breiteren Raum. Schließlich schaffen sie sich ihre autonome Form. Der Teufel wird zum Possenreißer, zum Narr,  zur lustigen Figur, er steht im Mittelpunkt von Farcen und Komödien. Eine weitere dramatische Form sind die vom Klima spätgotischer Mystik beeinflussten Moralitätsspiele mit ihren didaktischen Paraphrasen auf die Hinfälligkeit irdischen Lebens. Manchmal gehen sie mit dem Prinzip der Farce eine Bindung ein, die Didaktik bedient sich der humoristischen Übertreibung wie in den Fastnachtsspielen des Nürnbergers Hans Sachs.

Das wichtigste Land des morality play ist England. Hier entsteht das Spiel von Everyman, von jedermann, der Teufel aus den Osterspielen wird auch zum Vice, zur Personifikation des Lasters, um schließlich beim Narren zu enden, der die Dramatik des großen William Shakespeare bevölkert. Dies ist bereits Renaissance. Die Belletristik in den Zeiten davor gerät häufig blutleer und ästhetisch schwach. Überragende Talente wie Geoffrey Chaucer, Autor der »Canterbury Tales«, oder François Villon stehen einigermaßen vereinzelt da. Oder, mit Johan Huizinga:

»Mit Ausnahme einiger weniger Dichter empfinden wir die Literatur als ermüdend und langweilig. Endlos ausgesponnene eintönige Allegorien, in denen keine einzige Figur etwas Neues oder Eigenes bietet und die keinen anderen Inhalt haben als die längst abgezogene und schal gewordene sittliche Weisheit vergangener Jahrhunderte. Immer wieder dieselben formelhaften Motive: der Schläfer im Obstgarten, dem eine symbolische Dame erscheint, der Morgenspaziergang im jungen Mai, der Streit zwischen der Dame und dem Liebhaber oder zwischen zwei Freundinnen oder zwischen wem auch immer über einen Punkt aus der Liebeskasuistik. Hoffnungslose Oberflächlichkeit, Stilornamente aus Flittergold, süßliche Romantik, abgenutzte Phantasie, nüchternes Moralisieren - immer wieder kommt uns der Seufzer: Sind das Wirklich die Zeitgenossen eines Jan van Eyck? Kann ein Geist wie er dies alles bewundert haben? Höchstwahrscheinlich ja. Es ist nicht sonderbarer als etwa, dass sich Bach mit den kleinbürgerlichsten Reimschmieden eines rheumatischen Kirchenglaubens behalf.«    

(Quelle: Dieter Hägermann (Hrsg.): Das Mittelalter - Die Welt der Bauern, Bürger, Ritter und Mönche, RM-Buch-und-Medien-Vertrieb, 2001)