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Das Kriegführen war eine gesellschaftliche Funktion des Adels, die Rechtsprechung eine andere.
Zweck jeglicher Gerichtsbarkeit ist die Wiederherstellung des Rechtsfriedens. Er wird gestört durch Konflikte zwischen Personen oder Personengruppen sowie durch offensichtliche Verstöße gegen jene Verhaltensnormen, die sich die Gesellschaft zum Zweck eines gedeihlichen Miteinanderlebens und des Erhalts der bestehenden Ordnung gegeben hat. Diese Normen sind ihrerseits veränderlich. Gewöhnlich gehen Veränderungen im mehrheitlichen Verhalten der normierenden Festlegung voraus.
Im Mittelalter existierten zwei Rechtsprinzipien, die völlig unterschiedlichen Traditionen entstammten und gleichwohl nebeneinander bestanden: das kanonische und das weltliche Recht.
Das kanonische Recht ging zurück auf das römische und hatte dessen Grundsätze und Erkenntnis vielfach übernommen; ecclesia vivit lege Romana, wie es hieß, die Kirche lebt nach römischem Recht. Der am Ende verbindliche Codex wurde im Jahre 1140 verfasst, Urheber war der italienische Mönch Gratian, ein Scholastiker; sein Decretum Gratiani war verbindlich für die geistliche Gerichtsbarkeit. Kanonisches Recht kam in Anwendung bei allen Konfliktfallen innerhalb des Klerus und war zuweilen zuständig auch für Laien, so in Familiendingen. Kanonisches Recht galt außerdem in Fällen von Meineid, da immerhin auf Gott und die Bibel geschworen wurde.
Hingegen ging die weltliche Gerichtsbarkeit im Hochmittelalter nicht auf römisches, sondern auf Stammesrecht zurück. Von daher unterschied es sich in vielen Einzelheiten von einer Ethnie zur anderen, sowohl die Straftatbestände betreffend wie die Strafen wie auch die Zusammensetzung und Zuständigkeit der einzelnen Gerichte samt deren Vorgehensweise. Lange war es nicht kodifiziert und blieb reines Gewohnheitsrecht.
Im Hochmittelalter begann man dann in Deutschland, vermutlich unter dem Eindruck des römischen Rechtes, die bisherigen Gewohnheitsrechte zu sammeln und schriftlich zu fixieren. Die früheste und berühmteste dieser Sammlungen ist der ››Sachsenspiegel« des sächsischen Adligen Eike von Repgow, ein in niederdeutscher Sprache verfasstes Buch. Es erlebte viele Ausgaben, fand Nachahmungen in anderen deutschen Regionen und besaß vereinzelt Gültigkeit bis ins 19. Jh.
Berufsrichter gab es im Hochmittelalter nicht. Die Gerichtshoheit war Teil der allgemeinen herrscherlichen Gewalt und wurde entsprechend vom Herrscher ausgeübt. Dies war zunächst der König, zuständig für alle Reichsdinge, und entsprechend dcr lehensrechtlichen Abstufungen gab es für die verschiedenen Adelsränge richterliche Zuständigkeiten bis hinab zur einfachen Grundherrschaft. Die Dörfer hatten ihre eigenen Gerichtszuständigkeiten ebenso wie die Städte. Ohne Klage fand kein Gerichtsverfahren statt. Zudem galt, dass der Kläger nicht ranghöher sein durfte als der Richter. Andererseits konnte ein Niedrigstehender gegen einen Höherrangigen Klage erheben, der Beklagte musste dann auf frischer Tat ertappt worden sein, und der Bericht darüber musste unter Eid erfolgen. Nach dieser Angabe, der Rüge, war ein Verfahren zu eröffnen. Wir haben es hier mit einer Vorform der späteren Zeugenaussage zu tun.
Gerichtsherr war, wir sagten es, der Fürst. Adelsherrschaft war Gerichtshoheit und umgekehrt. Is, qui iure publico utitur, non videtur iniuariae facierndae causa hoc facere, hieß ein Grundsatz, wer öffentliche Gewalt ausübt, von dem darf man annehmen, dass er das nicht tut, um Unrecht zu tun. Wirklich nicht? Die Beispielfälle von Beeinflussung und direkter Bestechung des Gerichtspersonals sind zahlreich.
Der Vorsitzende leitete das gesamte Verfahren. Die Verhandlungen waren öffentlich. Neben dem Vorsitzenden gab es Beisitzer, auch Schöffen genannt, vertrauenswürdige Männer, die dem Vorsitzer durch Eid verbunden waren und die ihn berieten. Das Gericht hörte Kläger und Beklagten, anschließend fällte es das Urteil.
Das wichtigste Beweismittel war der Eid. Das Gericht hatte zu entscheiden, wer als erster schwor und in welcher Form, nämlich ob allein oder unter Zuhilfenahme von Eideshelfern. Der Eid ist eine Wahrheitsversicherung in streng ritualisierter Form. Gott wird angerufen, der Schwörende verflucht sich selbst für den Fall von Eidbruch oder Meineid. Eidesleistungen können Künftiges oder Vergangenes betreffen; das zweite, der so genannte Wahrheitseid, galt (und gilt noch) vor Gericht. Er konnte die Behauptung des Klägers stützen, und er konnte, als Reinigungseid, vom Klagevorwurf befreien. Der mögliche Missbrauch ist offensichtlich, weshalb bald auch andere Beweismittel in Gebrauch kamen: das Gottesurteil und der gerichtliche Zweikampf.
Das Gottesurteil, üblich waren das Gehen auf glühenden Pflug- scharen und das Eintauchen in fließendes Wasser, wurde ursprünglich nur bei nicht eidesfähigen Personen verwendet, das waren Unfreie und Frauen. Es setzte sich dann, vornehmlich in der Form des Zweikampfes, auch bei den Freien durch und am Ende selbst in der geistlichen Gerichtsbarkeit, dort freilich immer nur als ein Beweismittel für Laien.
Das Verfahren sah nach Anhörung von Kläger und Beklagtem den Urteilsvorschlag der Beisitzer vor. Der Vorsitzende sprach das endgültige Urteil. Es war gewöhnlich unanfechtbar; jedes Verfahren hatte nur eine Instanz. Allerdings war ein Art Einspruch zulässig, die so genannte Urteilsschelte, was gegebenenfalls zu einer Neuverhandlung führen konnte. Im späteren Mittelalter setzten sich dann, in Anlehnung an das römische Recht, förmliche Appellationsverfahren durch.
Urteile gingen von dem Grundsatz aus, dass mutwillig verursachte Schäden und Verluste in voller Höhe zu entgelten seien. Dies betraf Viehverluste ebenso wie Verluste an Menschenleben. Solcher Ausgleich geschah entweder dinglich oder durch Geld oder durch Frondienste. Der Kläger riskierte es, im Verlustfall die gleiche Strafe zu erleiden, wie sie dem Beklagten drohte. Auch Landeigentum, als wichtigster Besitztitel jener Zeit, konnte vom Gericht neu vergeben werden.
Im Übrigen existierte eine breit gefächerte Skala von Strafen, die zum Teil äußerst brutal l ausfielen. Bei nachweislichem l Meineid wurde die Schwurhand V abgehackt. Es gab die Acht; der davon Betroffene war rechtsfrei auf Zeit, und wenn die angesetzte Frist abgelaufen war und der Geächtete keine Einkehr zeigte, wurde die Aberacht verhängt, die zu völliger Rechtlosigkeit führte. Ruten- und Peitschenhiebe waren üblich. In Städten gab es den öffentlichen Pranger. Bei Gotteslästerung wurde die Zunge mit glühenden Eisen durchbohrt, eine andere Strafe war das Brandzeichen, am Körper anzubringen oder im Gesicht. Man schnitt Verurteilten Hände, Füße, Nasen, Ohren Lind Lippen ab, man stach ihnen die Augen aus.
Kardinalverbrechen wie Mord, Raub, Brandstiftung und Vergewaltigung wurden mit dem Tode bestraft. Die Strafvollstreckung war anfangs dem erfolgreichen Kläger überlassen, ab dem Hochmittelalter gab es hierfür Gerichtsdiener und bei Vollzug der Todesstrafe den Henker. Die Urteile sollten unter anderem der Abschreckung dienen, Wovon man sich eine wirksame Prävention erhoffte. Die Hinrichtung eines Delinquenten erfolgte gewöhnlich am Galgen, in England auch als Vierteilung. Der Vollzug war ein großes öffentliches Spektakel.
Im 15. Jh. kamen Femegerichte auf. Sie Waren eine rein deutsche Angelegenheit und hier allein im Münsterland gebräuchlich; es handelte sich um Freigerichte, zuständig für schwere Kriminalfälle, ihre Urteilsfindung geschah verhältnismäßig unabhängig und genoss überregionales Ansehen. Die Femerichter nahmen Klagen auch aus anderen Territorien entgegen und gelten deshalb als eine Vorform der späteren Reichskammergerichtsbarkeit. Ihre Prozesse liefen bald unter Ausschluss der Öffentlichkeit ab, was ihnen den Ruf des Geheimnisvollen eintrug.
Gleichermaßen teilt sich in ihrer Existenz eine Hinwendung zu richterlicher Unabhängigkeit mit, die schließlich in die von Montesquieu formulierte Gewaltenteilung münden sollte. Solche Vorformen existierten auch anderswo. In Frankreich bestand seit dem 13. Jh. das Parlament, ein von Pairs besetztes Adelsgericht, das zunehmend als oberste Instanz in Rechtsdingen fungierte und sich eine immer größere Unabhängigkeit zu verschaffen wusste. Auch das englische Parlament, Urmuster aller modernen Volksvertretungen, war zu-nächst, unter den Normannenherrschern, vornehmlich ein oberster Gerichtshof; die Erweiterung der Befugnisse in der Magna Charta stützte sich auf diese Funktion.
Ebenso fällt auf der Insel die allmähliche Hinwendung zu einer institutionalisierten richterlichen Unabhängigkeit in eben jene Zeit. Die ständische Gerichtsbarkeit verliert an Bedeutung, das common law mit seinen allgemein gültigen Regeln setzt sich durch, selbst gegenüber königlichen Gerichten. Urteilssammlungen werden angelegt, die Yearbooks; mehr und mehr gilt für das gesamte Königreich nunmehr die Rechtseinheit. Unter König Edward I. gibt es sowohl einen eigenen Richterstand (mit auch umherreisenden Richtern) wie Anwaltsgilden, die Inns of Court, die ihre eigenen Ausbildungsstätten betreiben. Es gibt die Institution des Friedensrichters, des judge of peace, betraut mit der Schlichtung niederer Rechtsfälle, der als juge de paix dann auch in Frankreich aufkommt. Mit dem 1268 verstorbenen Henry de Bracton verfügt England über einen der großen Juristen des Mittelalters, den Verfasser bedeutender Abhandlungen, ausübenden Richter und Justiziar am Hof des Königs; die heute in Großbritannien praktizierte Gerichtsbarkeit geht in vielem auf ihn zurück.
Henry de Bracton leistet für England, was in romanischen Ländern, zumal in Italien, selbstverständliche Gegebenheit ist: die Existenz von akademisch ausgebildeten Anwälten, die schriftliche Aussage vor Gericht, das schriftlich fixierte Urteil. Hier wirkt das römische Recht nach und behauptet sich damit nicht bloß im kirchlichen Bereich.
Die Bekämpfung von Häresie und Hexenwesen im Spät- mittelalter fördert als eine neue und bald höchst mächtige Einrichtung die Inquisition; inquierere ist das Ermitteln eines Sachverhaltes »von Staats wegen«. Sie wird insofern folgenreich, als hier erstmals das Verhör praktiziert wird und als wichtiges Beweismittel für die Urteilsfindung nunmehr das Geständnis gilt. Um es zu herbeizuführen, setzt sich die Folter durch.
Die Prozedur ist genau festgelegt. Man zeigt dem Delinquenten zunächst die Instrumente, danach beginnen die einzelnen Torturen, die vermittels Spann-, Dreh- und Schraubgerätschaften körperliche Pein verursachen; die Kunst des Folterknechtes besteht darin, nach Möglichkeit kein Blut fließen zu lassen. Man hat der Folter nach- gerühmt, sie sei ihrem Charakter zufolge urdemokratisch gewesen, da sie unabhängig vom Stand eines Beschuldigten Anwendung fand; dies ist ungefähr so richtig, als wolle man die Guillotine zu Zeiten der Terreur dafür belobigen, das Revolutionsprinzip der Gleichheit besonders nachdrücklich durchgesetzt zu haben. Inquisition und Folter hatten in den Ländern Europas eine recht unterschiedliche Bedeutung. England übernahm sie erst ab dem 15. Jh., ohne ihr jemals jene Ausmaße einzuräumen wie auf dem Kontinent. In Polen und Skandinavien gab es sie überhaupt nicht.
Recht und Gerechtigkeit sind zweierlei Ding. Wie weit sie damals im Bewusstsein cler Zeitgenossen auseinander fielen, auch im Zeichen der sich herausbildenden Rechtswissenschaften, beklagt ein Vagantenlied aus dem 13. Jh.:
„Lärmend wird das Recht gelehrt, Christi Stimme endet. Rechtsgelehrter Prahlerei, sich vom Kreuz abwendet. Zwischen Unkraut und Gestrüpp Weizen ist verkommen. Gottes fleischgewordenes Wort wird nicht mehr vernommen.“