Vasallität und ihr Lohn

Wenn die europäische Bevölkerung im Mittelalter zu etwa neun Zehnteln aus Bauern bestand, blieb für den Rest, also Städtebewohner, Geistlichkeit und Adel, nur mehr ein Zehntel. Veranschlagen wir (in zugegeben etwas grober Rechnung) für jede dieser drei Gruppen je ein Drittel, verbleiben für den Adel als eigentliche Herrschaftsschicht etwa drei Prozent der Bewohner. Statistische drei von hundert Menschen hatten das Sagen über die restlichen siebenundneunzig: ein autokratisches Missverhältnis. Die Absegnung jener Struktur durch die einschlägigen Passagen des Neuen Testaments hielt die Zustände nur ungenügend beieinander. Die Bibel ließ sich ebenso als Argumentation für Änderung und Aufstand benutzen, was auch geschah, wobei den ersten Ansatz das eigennützige und oft genug grob fahrlässige Verhalten der Oberschicht stellte. Wieso sollte man eine Herrschaft dulden, die zwar behauptete, von Gott zu  sein, aber in jeder ihrer Taten dieser Begründung widersprach? In Wahrheit war es nicht der Wille des Himmels, der die gegebenen Zustände fügte, es war die Geburt. So wie der Unfreie und der Freie sein Personalrecht von seinen Eltern herleitete, geschah es im Falle des Adels, und wie bei den Unterschichten, auf die Dauer gesehen, eine gewisse Permissivität mit der Konsequenz eines sozialen Wandels eintrat, geschah dies gleichermaßen bei der Aristokratie.

Das ursprünglich in Asien beheimatete und während des Mittelalters in ganz Europa gebräuchliche Schachspiel wurde gern als Gleichnis für die bestehende ständische Gliederung der Gesellschaft genommen; noch heute bewahren die einzelnen Spielfiguren ihre feudalistisch bestimmten Namen. Hinter der großen Gruppe der gleichförmigen und leicht zu opfernden Bauern stehen die Figuren höheren Ranges, die sich ihrerseits in ihrer Bedeutung und ihren Bewegungsmöglichkeiten voneinander unterscheiden. Das macht: Auch der Adel kannte, wie die übrigen sozialen Gruppen, die Abstufung von hoch zu niedrig, mit entsprechenden Unterschieden der Rechte und der davon mitbestimmten Abhängigkeiten.

Wir können von einem hohen und einem niederen Adel sprechen. Die Namen wie auch die Einzelheiten hinsichtlich der Privilegien differieren von Land zu Land. Allen gemeinsam ist der Grundsatz einer Subordination und die immer wiederkehrende Neigung, sich solcher Subordination zu entziehen. Überall existiert daher eine andauernde Spannung zwischen oherherrschaftlicher Zentralmacht und Autonomiebestrebungen der Partikularfürsten.

Es bleibt dies eine Konstante für Sämtliche europäischen Staaten. Die Unterschiede zwischen Letzteren rühren auch davon her, wie sie jene Spannung lösen. Dass der straff organisierte Zentralstaat die erfolgreichere etatistische Organisationsform stellt, ist ebenso erweislich wie die Tatsache, dass dergleichen immer nur partiell auftritt und auch dann zumeist nur vorübergehend.

Vom Schema her gehorchen die europäischen Gesellschaften des Mittelalters der Struktur einer Pyramide: stufenförmig, nach oben hin sich verjüngend, streben sie einer Spitze zu, dem Oberhrrscher, der gewöhnlich den Titel eines Königs trägt. Ihm unmittelbar zugeordnet sind die Großfürsten, Herzöge, Magnaten oder Granden, denen in Abstufung die übrigen Adeligen unterstehen, sie heißen Pairs, Grafen, Barone, Marquis oder Ritter. Materieller Ausdruck ihres Ranges ist zumeist die Größe ihres Landbesitzes, der ihnen, so die gewöhnliche Praxis, nicht als unumschränktes Eigentum zur Verfügung steht, den sie vielmehr nur leihweise halten. Der rechtliche Begriff dafür lautete Lehen. Es wird vergeben für Gegenleistungen, die in Subordination, Gehorsam und politischer Dienstleistung bestehen. Der hierfür gebräuchliche Begriff lautet Vasallität.

Bei ihr handelt es sich um eine durch Traditionen gestützte und durch genaue Rituale charakterisierte Praxis. Rituale sind wichtig für ein Zeitalter, das weitgehend analphabetisch ist und schriftliche Urkunden durch Symbole substituieren muss. Der französische Historiker Marc Bloch hat das Verfahren, in dem sich Vasallität ausdrückt, sowie die davon ableitbare Bedeutung beschrieben:

»Zwei Männer stehen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber; der eine, der dienen will, der andere, der willens ist oder hofft, als Herr anerkannt zu werden. Der Erste faltet seine Hände zusammen und legt sie so verbunden in die Hände des Zweiten: ein klares Symbol der Unterwerfung, dessen Sinn manchmal noch durch niederknien hervorgehoben worden ist. Gleichzeitig spricht die Person mit den dargebotenen Händen einige sehr kurze Worte, mit denen sie anerkennt, der >Mann< ihres Gegenüber zu sein. Dann küssen sich der Herr und der Untergebene auf den Mund - ein Symbol der Übereinstimmung und der Freundschaft. So sahen die Gesten aus, die dazu dienten, eines der stärksten gesellschaftlichen Bande zu knüpfen, die das Feudalzeitalter kannte. Sie waren sehr einfach und gerade dadurch außerordentlich geeignet, die Gemüter zu beeindrucken, die allen sichtbaren Dingen so aufgeschlossen waren. Hundertmal beschrieben und in Texten erwähnt, auf Siegeln, Miniaturen und Reliefs wiedergegeben, ist dieser Vorgang >Mannschaft leisten< oder >Huldigung< genannt worden. Um den zu bezeichnen, der daraus als der Höhere hervorging, gab es tatsächlich keinen anderen Ausdruck als den höchst allgemeinen Namen ›Herr«. Der Untergebene ist oft in gleicher Weise Ohne Zusatz der »Mann« dieses Herrn genannt worden, mitunter mit etwas größerer Genauigkeit, sein ›Mann von Mund und Hand«…

So verstanden, blieb der Ritus von jedem christlichen Gepräge entblößt. Ein derartiger Mangel, der bloß durch die weit zurückreichenden germanischen Ursprünge seines Symbolismus erklärt werden kann, konnte nicht in einer Gesellschaft fortdauern, in der man es kaum mehr duldete, dass ein Versprechen galt, wenn es nicht Gott zum Garanten hatte. Die Form der Huldigung selbst ist niemals verändert worden«.

Das Prinzip einer Leihgabe besteht darin, dass ihre Nutzung durch den Empfänger vorübergehend ist und der Leihgeber als eigentlicher Eigentümer sie wieder zurückholen kann. Dies alles galt auch für das Lehen: zunächst, denn schon bald betrachteten die Lehensträger ihr Gelände als selbstverständlichen, uneingeschränkten und dann auch vererbbaren Besitz. Durch Gewohnheitsrecht wurde der Vorgang befestigt. Hier lag der Ursprung immerwährender Konflikte, die dann auch ausbrachen und in aller Regel nur militant gelöst werden konnten. Ohnehin war die Hauptbeschäftigung des Adels neben der Herrschaft der Krieg. Zur Herrschaft gehörten außerdem die richterliche Gewalt und das Eintreiben von Abgaben. War gerade kein Krieg, bestand die Tätigkeit des Adels, wie bei Walter Scotts Romanfigur Cedric, in der Jagd und in Turnierübungen, die beide erkennbar militante Sportarten waren. Man befand sich ständig in bewaffneter Bereitschaft. Man fieberte dem Krieg entgegen.

Oder, wieder mit Bloch:

»Ein wesentlicher Bestandteil jeden Klassenbewusstseins ist der Stolz; der der ›Adligen« der frühen Feudalzeit war vor allem ein kriegerischer Stolz. Für sie war das Kriegführen auch nicht nur eine gelegentliche Pflichterfüllung gegenüber dem Lehnsherrn, dem König, der Sippe, es war weit mehr - ein Lebenszweck!

(Quelle: Dieter Hägermann (Hrsg.): Das Mittelalter - Die Welt der Bauern, Bürger, Ritter und Mönche, RM-Buch-und-Medien-Vertrieb, 2001)